Das war die Chästeilet 2025 im Justistal (inkl. Fotogalerie)

Ankunft im Justistal: Morgendliche Vorfreude
Ein goldener Septembermorgen begrüsst uns im Justistal, ein abgelegenes Alpental oberhalb des Thunersees, das seit fast 300 Jahren Schauplatz eines ganz besonderen Brauchtums ist. Schon früh strömen Einheimische und Gäste ins Tal, um die Chästeilet 2025 mitzuerleben. Die traditionelle Chäseteilet, bei welcher der über den Alpsommer produzierte Käse gerecht der Milchleistung der Kühe unter den Bauern aufgeteilt wird. Neun Alpen (Alpgenossenschaften) sind hier beteiligt. Bereits am Taleingang, bei der vordersten Alp Grön, liegt Feststimmung in der Luft: Dort wird der Alpkäse direkt vor Ort geteilt und tatsächlich hört man schon um 9 Uhr fröhliche Jodelklänge von der Alphütte herüber.

Unser Ziel ist der Spycherbergplatz etwas unterhalb der Alp Spycherberg. Hier stehen in einer malerischen Alpwiese vier alte Käsespeicher aus Holz. In diesen Speichern teilen sieben der neun Alpgenossenschaften ihren Käse, zwei Alpen, eben das erwähnte Grön sowie die Alpgenossenschaft Spycherberg selbst, führen die Teilung bei ihren eigenen Hütten durch. Am Spycherbergplatz angekommen, werden wir sogleich von Alphornklängen empfangen. Rund um die Speicher herrscht reges Treiben: Älpler in traditioneller Tracht (Chüjermutz) begrüssen Freunde und Familien, neugierige Besucher bestaunen die Umgebung, und überall duftet es nach würzigem Käse. Eine kleine Festwirtschaft hat geöffnet und bietet lokale Spezialitäten an. Vom knusprigen Zopf mit Hobelkäse bis zum wärmenden Kräutertee ist für das Wohl gesorgt. Viele Kuhbesitzer (die sogenannten Bergrechtler) haben ausserdem für ihre Helfer und Gäste eigene Picknicks mitgebracht. Die Stimmung ist gelassen und erwartungsvoll, es wird gelacht, geplaudert und hie und da sogar spontan musiziert: Immer wieder stimmen Älpler mit den Besuchern ein Jodellied an, und auch die typischen Klänge des Schwyzerörgelis (Handörgeli) sind zu hören. Dieses ungeplante Zusammenspiel von Musik, Natur und Menschen verleiht dem Anlass eine einzigartige Atmosphäre, die gleichzeitig authentisch und feierlich wirkt.

Traditionelles Ritual: Käse in neun Teilen
Um 10:30 liegt das Tal noch im Schatten des Niederhorns. Die Sonne lässt auf sich warten, doch das tut der Feststimmung keinen Abbruch. Der Platz füllt sich bereits mit erwartungsvollen Gesichtern. An diesem sonnigen Septembertag haben sich Schätzungen zufolge bis zu 5’000 Personen im Justistal eingefunden. Einheimische, Neugierige und Gäste aus aller Welt
Punkt 11 Uhr ist es dann so weit: Unter dem Jubel der Anwesenden öffnen die Sennen und Sennerinnen die Türen der kühlen Speicher. Jetzt werden „d’Chäslaibe usegäh“ die schweren Laibe werden herausgenommen, einer nach dem anderen. In kräftigen Händen werden die goldgelben Käselaibe von einem zum nächsten gereicht. Teamarbeit wie auf einer stillen Kette. Stück für Stück entstehen auf den hölzernen Latten sorgfältig geschichtete Stapel, jeder ein eigenes Los. In diesem Jahr kommen 94 Lose beim grossen Mittelberg zusammen, ein eindrückliches Bild, wie die über 600 Laibe Alpkäse vor dem urchigen Spycher sorgfältig aufgeschichtet werden.

Doch was genau ist ein Los? Hierzu gab uns Daniel Eschmann eine kleine Einführung. Er erklärte, dass jede der 255 Kühe im Justistal den Sommer über gemolken wurde und die Milchmenge genau dokumentiert ist. 4 Säume ergeben ein 1 Los, ein Saum sind 200 Liter Milch. 1 Los, das entspricht etwa 800 Liter Milch und resultiert in ungefähr 70–75 kg Alpkäse. Anders ausgedrückt: Ein Los umfasst je nach Berg und Jahr eine unterschiedliche Anzahl Pfund Käse. Dieses Jahr waren es rund 148 Pfund Käse beim grossen Mittelberg. (1 Pfund = 0,5 kg), was jeder der Stapel ziemlich genau auf die Waage bringt. Erstaunlich ist, mit welcher Präzision die Älpler diese Gewichte einhalten: Die Lose unterscheiden sich maximal um 1 Pfund, jeder Stapel wiegt also zwischen etwa 147 und 149 Pfund. Dieses Kunststück gelingt, indem man die Käselaibe schlau mischt: Ältere, schon etwas länger gepflegte Laibe aus dem Juni kommen zusammen mit jüngeren Laiben vom Spätsommer, bis jeder Stapel in Summe das Zielgewicht erreicht. So bekommt jeder seinen fairen Anteil am Gesamtertrag des Alpsommers.
Bei Teilen wird übrigens kein einziger Laib zerschnitten – das ist ein ungeschriebenes Gesetz, das schon seit jeher gilt. Obwohl die Milchleistung der einzelnen Kühe nie auf das Pfund genau in Käse aufgeht, werden keine Laibe halbiert. Stattdessen wird nach der Teilung untereinander ausgeglichen: Hat jemand „zu viel“ Käse erhalten, verkauft er überschüssige Laibe an jemanden, dem ein paar Pfund fehlen, oder kauft bei Bedarf von anderen hinzu. So bleiben alle Käselaibe ganz und die traditionelle Regel wird eingehalten.

Alpkäse vs. Bergkäse – was ist der Unterschied?
Bei so viel Käse kommt die Frage auf: Worin unterscheidet sich eigentlich Alpkäse von Bergkäse? Oft werden die Begriffe verwechselt, doch es gibt einen klaren Unterschied:
- Alpkäse: Dieser Käse wird nur im Sommer direkt auf der Alp mit Rohmilch hergestellt, in der Zeit, in der die Kühe auf der Alpweide sömmern und frisches Gras fressen. Jeder Alpkäse ist also ein saisonales Produkt des Alpsommers.
- Bergkäse: Dieser Käse stammt zwar ebenfalls aus Bergregionen, wird aber ganzjährig in Dorfkäsereien oder gewerblichen Molkereien produziert. Das heisst, auch im Winter, wenn die Tiere im Tal im Stall stehen und mit Heu gefüttert werden, entsteht Bergkäse in den Talsennereien.
Alpkäse geniesst unter Kennern einen besonderen Ruf, da er die würzigen Alpenkräuter und die Sommerweide im Aroma trägt. Bergkäse hingegen bietet das ganze Jahr über konstante Qualität aus Bergmilch, allerdings ohne den besonderen Geschmack der Sommerweiden. Beide Käsesorten sind köstlich, doch ein echter Alpkäse, frisch von der Sennhütte, bleibt ein einmaliger Genuss der Alpsaison.

Die Verlosung der Käse-Stapel
Zurück zur Chästeilet: Nachdem alle Laibe gestapelt sind, ein Gesamtbild von fast 7,5 Tonnen Käse, die allein im Justistal auf dem grossen Mittelberg diesen Sommer produziert wurden, folgt der spannendste Moment des Tages. Jetzt entscheidet sich, wer welchen Käse-Stapel bekommt. Dafür tritt Käserin Flavia Liechti in den Mittelpunkt. Flavia ist die Sennenkäsemeisterin der grössten Alp im Tal mit 55 Kühen und eigenem Käsespeicher. Mit ruhiger Hand hält sie ein Beutelchen mit kleinen hölzernen Täfelchen, den «Brittleni». Auf jedem steht ein Name und die Anzahl Säum, die zu einem Los gehören. Manchmal sind auch mehrere Namen darauf – dann müssen sich die Beteiligten den Käse teilen, ohne dass ein Laib halbiert wird.
Jetzt hält das Publikum den Atem an: Flavia zieht ein Brittleni nach dem anderen, schreitet die Reihe der Käsestapeln entlang und legt jeweils ein Holtzäfeli obenauf. Mit lauter Stimme ruft sie die Namen der Berechtigten aus, welchen der entsprechende Stapel gehört. Ein Raunen und zustimmendes Nicken geht durch die Reihen, wenn altbekannte Familiennamen erklingen. Viele der anwesenden Bauernfamilien sind seit Generationen hier vertreten. Nach und nach erhält jeder Käse seinen Besitzer. Als das letzte Brittleni verteilt und der letzte Name verkündet ist, brandet Applaus auf. Die Erleichterung ist spürbar: Der Käse ist gerecht geteilt, niemand geht leer aus. In den Gesichtern der Sennen und Bergrechtler sieht man Freude und auch ein wenig Stolz über die erfolgreich abgeschlossene Alpzeit.

Doch lange ausruhen kann man nicht, jetzt beginnt ein geschäftiges Treiben: Überall eilen Helfer herbei, um die schweren Laibe in Fahrzeuge zu verladen. Familienmitglieder, Freunde und Bekannte der Alpbesitzer packen mit an, denn jede helfende Hand wird gebraucht. In diesem Trubel zeigt sich der Gemeinschaftsgeist eindrucksvoll: Fremde reichen einander Laibe über die Wagenböden hinweg, es wird gelacht und angepackt.
Als der letzte Käselaib verladen ist, legen die Helfer eine Verschnaufpause ein. Man klopft sich gegenseitig anerkennend auf die Schultern. Unbeteiligte Zuschauer kommen mit den Berglern ins Gespräch. Jetzt, da der offizielle Teil vorbei ist, mischen sich alle Anwesenden und tauschen Eindrücke aus. Es ist schön zu sehen, wie Tradition und Gegenwart hier zusammenfinden: Älpler in Tracht erklären neugierigen Wanderern den Ablauf, junge Helfer posten erste Fotos auf Social Media, und ältere Semester erzählen Geschichten von früheren Chästeilet-Jahren. Viele Besucher zeigen sich berührt von der Herzlichkeit und Authentizität des Erlebten. «So etwas Echtes findet man nur noch selten», meint eine begeisterte Besucherin, und eine andere fügt hinzu: «Ich finds schön, dass solche Traditionen in der heutigen Zeit noch gewahrt werden». Diese Stimmen der Besuchenden fangen die Magie der Chästeilet ein: Es geht eben nicht nur um Käse, sondern um die Menschen und die gemeinsame Freude an einem gelebten Brauchtum.

Alpabzug: Der feierliche Zug der Kühe
Wir machten uns bereits vor den Kühen auf den Weg ins Dorf. Immer wieder wurden wir dabei von Traktoren, Autos und kleinen Transportern überholt, vollgeladen mit Menschen und Käse, die hinunter nach Sigriswil gebracht wurden. Für uns aber blieb es ein gemütlicher Marsch, mit immer wieder grossartiger Aussicht auf den Thunersee, den Niesen und die Gipfelkette gegenüber.
Später erfuhren wir, wie der eigentliche Alpabzug verlaufen war: Viele Kühe trugen Blumenschmuck, den sogenannten «Meien», doch längst nicht alle. Dahinter steckt eine alte Regel: Nur Kühe, die im Sommer besonders viel Milch gaben, erhalten den Ehrenkranz. Jede Alp legt ihre eigene Grenze fest, und so kommt es, dass manche Tiere prächtig geschmückt heimkehren, andere aber ganz schlicht. Dieses Detail zeigt, wie eng Brauchtum und Leistung hier zusammengehören.
Für uns war der Weg nach Sigriswil ein ruhiger Abschluss des Tages – ein langsames Ausklingen, während ringsum schon der grosse Heimkehrbetrieb in vollem Gang war.

Doch vorbei ist der Tag damit noch lange nicht. Für viele fängt das Feiern in Sigriswil jetzt erst richtig an. Ich war überrascht, wie viele Menschen unten im Dorf auf die Kühe warteten. Ganze Familien, Nachbarn, Gäste. Als ich mich auf den Weg zum Bus machte, hörte ich plötzlich das laute Geläut der Glocken: Der erste „Alpabzug“ war in Sigriswil angekommen.
In den Häusern und Gärten wird weitergefeiert. Familien bereiten Suppe und Kaffee vor, auf den Tischen stehen Kuchen und Brot. Man sitzt zusammen, erzählt vom Sommer und räumt nebenbei die schweren Laibe in die Keller. Für viele ist es ein geselliger Abschluss, für manche fast ein zweites Fest.

Fazit: Ein Erlebnis für alle Sinne
Mein persönliches Fazit zur Chästeilet 2025: Dieser Tag im Justistal hat mir eindrücklich gezeigt, dass es nicht nur um Käse und alte Rituale geht, sondern vor allem um die Menschen, die Gemeinschaft und die Leidenschaft, mit der dieser Brauch gelebt wird. Die Chästeilet im Justistal ist weit mehr als ein Schauspiel für Gäste. Sie ist gelebte Tradition, echtes Kulturgut und ein Fest der Gemeinschaft. Vom ersten Alphorn am Morgen bis zu den letzten Begegnungen im Dorf spürt man die Verbundenheit mit der Natur und den Stolz auf die Älpler-Kultur.
Wenn ich Ihnen mit diesem Bericht Lust auf einen Ausflug in diese Bergwelt machen konnte, freut mich das sehr. Ich kann nur empfehlen, dieses einzigartige Erlebnis nach dem nächsten Alpsommer einmal selbst mitzuerleben. Die Chästeilet findet auch 2026 wieder im September statt. Planen Sie es ruhig ein, Sie werden es nicht bereuen. Es erwartet Sie ein Tag voller Tradition, herzerwärmender Begegnungen und köstlicher Eindrücke.
Und weil Bilder oft mehr sagen als Worte, finden Sie am Ende eine Galerie mit allen Impressionen dieses besonderen Tages.
Galerie:
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